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  1. Wadés Tafel

 

 

Was dem einen Gewinn ist, ist dem anderen Verlust. Was da verschwindet, tritt dort hervor. Eins ist das, was im Abstand erscheint, da und dort, früher und später. Diese Weite, in der Ja und Nein sich verlieren, ist ein Traum, der bei Bewusstsein immer schon ausgeträumt ist. Für Emanuel Wadé aber tritt ein so großer Traum bei Bewusstsein zutage. Das heißt nicht nur, dass einzelne Träume in Bildern erinnert sind und dass auch das Betrachten der Bilder eine solcher Erinnerung wachruft. Zuvor noch entstehen die Kompositionen oder Konstruktionen wie Assoziationen: Der Künstler kann eine Zeichnung mit einer Figur, ein Relief mit einem Motiv anfangen, das plastisch ist und musikalisch erscheint; und ohne zu wissen, wohin, gelangt er dennoch zu einem Bild und zu Bildern, zu denen, die immer noch Einbildung sind. Träumerisch scheint sogar der Raum für die Bilder betreten. Wadé spricht davon, dass ihn die Kunstgeschichte nur durch diesem Filter erreicht. Wo bei Rubens ein Jagdhund war, tritt ein Delfin auf die Bühne. Eine farbige Pinselzeichnung nimmt die Nilpferdjagd auf, aber nicht als Kopie, und erst recht nicht als eine Verhandlung, die gar nicht anfangen kann ohne ein Gegenüber. Ist das nicht dreist, nicht viel anders, als Picasso Cranach oder Velázquez aufgenommen hat in sich selbst? Ist das nicht auch belanglos? Was ist Picasso mehr, als ein Genie, das vergangen ist?

 

Die Aufnahme, die keine Bezugnahme ist, nicht nach außen sieht, sondern nach innen, nicht Abbildung ist, sondern Einbildung, gehört in die Vergangenheit, die wir Aufklärung nennen. „Erst die Wendung der Ästhetik vom Subjekt und dessen Seelenvermögen zum Objekt, zum Kunstwerk, bringt die Ästhetik im Sinn einer objektbezogenen Kunstgeschichte hervor.“ (Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Band 1, Darmstadt 1985, S. 45). Der Anfang, nicht objektbezogen zu sprechen, ist so nur im Werk wieder zu finden. Ein Relief von Emanuel Wadé ist senkrecht und waagrecht in neun Felder geteilt. In diesen Feldern erscheinen ein Horizont, ein Buchstabe, eine Mondsichel, eine Linie, eine Farbe, ein Trinkglas, eine Ziffer, ein Muster und ein Gleichungszeichen. Tablett, Tablet, Magritte? Gewiss hat der Surrealismus die historische Möglichkeit abgedeckt, Foucaults „Wörter“ und „Dinge“ so aufeinander treffen zu lassen, dass uns Hören und Sehen vergeht, die Einbildung hervortritt und das Bild auch verschwindet. Aber wie gelingt es Wadé, nicht zu verschwinden hinter Magritte? Der Traum kann die Möglichkeit, zu vergleichen, verschwinden machen, die Rede vom Traum kann das nicht. Aber Wadé redet nicht nur vom Traum, sondern von einem neuen Vergleich. Zuerst sagt er, dass er Picasso bewundert.

 

Man kann die Arbeiten von Emanuel Wadé virtuos nennen. Diese Fertigkeit liegt nicht nur im fließenden Übergang zwischen Bild und Skulptur, der im bemalten Relief immer wieder erfolgt. Sondern die Fertigkeit selbst ist kein Ende, alles, was fertig ist geht doch weiter in einer Serie, oder es geht hinter sich selber zurück, indem es auch Skizze, Bozzetto sein könnte. In Wadés digitalen Arbeiten ist dieser Spielraum so groß, dass die Grenze zwischen Information und Erscheinung jeweils von neuem zu finden ist. Allgemein geht der Abstand daraus hervor, dass das Bild über das, was zu greifen ist, als Darstellung immer hinausgeht, auch wenn es flach oder nichts ist. Paul Thek hat eine solche Entfernung in Bildern, die er auf Zeitungspapier gemalt hat, als Weltraum und Luftraum gezeigt. Diese Darstellung aber bleibt immer bezogen auf The Tomb, sein eigenes Grab. Und er zeigt auch dieses eigene Sein als Replik. Theks These, „dass ein Künstler lediglich kopiert“ (Paul Thek. Tales the Tortoise Taught Us, Ausstellungskatalog, Köln 2008, S. 34) klingt erst verneinend und eröffnet dann eine Weite, die nicht nur Werk, sondern Welt ist.

 

Im Alltag heißt fertig sein so viel wie am Ende sein, und diese Rede kann auch den Zustand der Welt meinen. Die Fertigkeit als Virtuosität zu entdecken gilt nicht nur einer Wendung der Sprache, sondern einer Wendung des Zustands. Paolo Virno hat die Menschen, die unter prekären Bedingungen arbeiten müssen, als VirtuosInnen beschrieben: „In erster Linie verrichten sie eine Tätigkeit, die ihre Erfüllung (bzw. ihren Zweck) in sich selbst findet, ohne sich in einem die Zeit überdauernden Werk zu vergegenständlichen …“ (Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Wien 2005, S. 66). Isabelle Graw bemerkt dazu: „Den Geniekünstler auf diese Weise zu aktualisieren bedeutet, seine Leistung darin zu sehen, das Allgemeine auf sich genommmen zu haben …“ (Ihr seid euer Potential. Ein Gespräch mit Paolo Virno von Isabelle Graw, Texte zur Kunst, Heft Nr. 63, September 2006, S. 85). Es stimmt, dass einige KünstlerInnen das Allgemeine auf sich nehmen, wo immer es laut wird. Man hat den Eindruck, dass Emanuel Wadé das, was Menschen, die keine Künstler sind, sagen, nicht weniger ernst nimmt als das, was Picasso gesagt hat. Aber es stimmt nicht, dass es von Wadé keine Werke gibt. Und natürlich verlieren auch die VirtuosInnen, die Virno meint, Ergebnisse nicht aus dem Blick.

 

Aber es gibt kein Ziel ohne Anfang. Und dieser Anfang scheint allen gemeinsam zu sein. Vor der Wahl zum deutschen Bundestag im Jahr 2005 hat Angela Merkel von dem gesprochen, „was vom Arbeitnehmer im 21. Jahrhundert erwartet wird“. (Schröder gegen Merkel – TV-Duell 2005, YouTube, 1:05). Sie nennt nicht etwa Loyalität, Pünktlichkeit, Fleiß, sondern „Nervenstärke, Organisationskraft, Kreativität“, ungefähr das, was Virno den VirtuosInnen zuspricht. Und dieses Aushalten, Organisieren und Schaffen hätte man früher nicht vom Arbeitnehmer, sondern vom Arbeitgeber erwartet. Dieser Drehung entsprechend nennt Paolo Virno das, was das neue Subjekt im Kopf hat, eine Philosophie. Diese ist nicht akademisch, sondern der Teil, den der oder die einzelne hat von dem, was man allgemein wissen kann, vom „General Intellect“.

 

Dieser Teil ist mehr als ein Bruchstück. Emanuel Wadé hat sein Wissen an einer übersichtlichen Tafel organisiert. Auf dieser Tafel stehen oben die vier Titel „Figur“, „Landschaft“, „Muster“ und „Schiff“ nebeneinander. Dem sichtbaren Abstand entsprechend sagt Wadé, dass das, was die Titel meinen, so weit auseinander liegt, wie nur möglich. In der Tat gibt es Unterschiede und Gegensätze: Figur und Schiff sind so verschieden wie Landschaft und Muster. Und die ersten sind durch Punkte, die zweiten durch Felder gekennzeichnet. Diesen Gegensatz findet man in der Zeile darunter benannt als „Sein“ und als „Darstellung“. Und in einer dritten Zeile steht „Skulptur“ unter „Sein“ und „Malerei“ unter „Darstellung“. Dazwischen steht das „Relief“.

 

Es wäre nicht nötig gewesen, die „philosophischen“ Titel von den „künstlerischen“ darunter durch eine grüne Schnur abzusetzen. Denn die Tafel ist ohne eine Lücke zu lesen und gibt so weniger Anlass, Philosophie und Kunst voneinander zu trennen, als sie neu zu vergleichen. Heinrich Wölfflin hat 1918 bemerkt, dass „Sein“ und „Erscheinung“ in der Philosophie und in der Kunst so verschiedenes meinen, dass man sich nur falsch verstehen kann. (Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1918, S. 23). Natürlich haben Kant und Picasso verschieden gesprochen. Aber es ist die gleiche Virtuosität, die Wadés Tafel und seine Werke hervorbringt. Daher kann auch dieser Text nur kopieren, auch und gerade dann, wenn er die Tafel enthält, die der Künstler als solche nicht ausstellt. Denn das, was Emanuel Wadé sagt, lässt sein Werk nur erscheinen als das, was es ist. Und das Werk lässt die Welt nur erscheinen als das, was sie ist.

 

 

Berthold Reiß
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